Einfälle Nr. 161 | 1. Quartal 2022

Liebe Leserinnen und Leser – liebe Freunde und Förderer,

was niemand für möglich gehalten hätte, ist geschehen: Es gibt wieder Krieg in Europa. Zwar gab es seit dem zweiten Weltkrieg kein Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt Krieg war – aber das war weit weg und wurde verdrängt. Das ist jetzt anders. Kaum jemand hat sich in den letzten Wochen nicht gefragt, wo das enden wird und ob es nicht doch noch zu einem alles vernichtenden Atomkrieg kommt. Das sieht zwar zurzeit nicht so aus, aber die Ängste sind da und verunsichern viele Menschen, mich eingeschlossen, zutiefst.

Zunächst aber denke ich an das Leid der vielen Menschen, die aus der Ukraine flüchten mussten und von uns sehr solidarisch aufgenommen und unterstützt werden. Das ist beeindruckend und macht zuversichtlich – obwohl ich mich frage, was diese Menschen von denen unterscheidet, die z.B. aus Syrien flüchten mussten. Sie werden von uns oft weniger freundlich aufgenommen, von manchen gar als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert. Sind nicht alle Menschen gleich? Oder hat George Orwell doch recht, der einst parabelhaft sagte: „Alle Menschen sind gleich, aber einige sind gleicher.“

Die Auswirkungen der derzeit hohen Energiepreise sind für alle spürbar, wobei ich – Gott bewahre – das Leid der Flüchtenden auf gar keinen Fall damit vergleichen will. Dennoch: statt die zu unterstützen, die von einer kleinen Rente oder Grundsicherung leben müssen, werden die Spritpreise für alle reduziert. Dabei fallen die Entlastungen beim Benzin deutlich höher aus als beim Diesel; letzterer erhöht jedoch die Transportkosten und damit indirekt die Preise für Güter des täglichen Bedarfs. Eine entsprechende Erhöhung der sowieso schon zu niedrigen Hartz-IV-Regelsätze (dazu mehr in diesem Heft) dagegen ist kein Thema. Solidarisch wäre eine höhere Belastung der besser Verdienenden und eine zielgerichtete Entlastung derjenigen mit einem geringen Einkommen – nicht nur vor diesem Hintergrund. Das ist jedoch mit einer liberalen Partei in der Bundesregierung offenbar nicht zu machen.

Bei der Corona-Pandemie ist es mit der Solidarität auch nicht weit her: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Bundesländer haben einen steuerfreien Bonus in Höhe von 1.300 Euro erhalten. Was die Beschäftigten in der Pflege betrifft, ist sich die Politik noch nicht einig (der Bonus wird wohl kommen, aber nicht mehr steuerfrei). Wer aber ist durch die Pandemie stärker belastet: Die Beschäftigten in der Pflege oder die Bediensteten in der öffentlichen Verwaltung (die Gesundheitsämter ausgenommen)? Gute Pflege verdient mehr als Applaus! Wann werden wir die Pflege – unabhängig vom Corona-Bonus – endlich angemessen und leistungsgerecht bezahlen?

Wie solidarisch sind wir eigentlich selbst? Damit bin ich beim Thema Epilepsie. Wenn es um intelligenzgeminderte Menschen mit Epilepsie geht, ist in der Epilepsie-Selbsthilfe von einem solidarischen Umgang oft wenig zu spüren. Es gibt immer wieder Diskussionen darüber, ob wir Beiträge zum Thema Behinderung oder geistige Behinderung in die einfälle aufnehmen sollen. Da jedoch etwa 20% aller Menschen mit einer Intelligenzminderung zusätzlich an einer Epilepsie erkrankt sind, gehört das Thema sehr wohl dorthin.

Selbstbewusst leben und Auftreten mit Epilepsie – der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes – bedeutet letztlich, die Erkrankung im positiven wie auch im negativen Sinne anzunehmen, wie sie ist, und das Beste daraus zu machen. Das ist oft nicht einfach – und ich weiß durchaus, wovon ich spreche. Es bedeutet nicht, die Erkrankung und die mit ihr verbundenen leidvollen und schmerzhaften Erfahrungen zu verharmlosen oder zu leugnen. Es gibt die guten Verläufe, diejenigen, die anfallsfrei werden und von ihrer Epilepsie kaum beeinträchtigt werden. Aber es gibt auch die vielen schweren Verläufe mit weiterhin auftretenden Anfällen und zusätzlichen Beeinträchtigungen – und auch diejenigen mit einer Intelligenzminderung oder schweren Mehrfachbehinderung. Das zu leugnen, ist nicht nur realitätsfern, es ist auch bei der Krankheitsbewältigung und beim Umgang mit der Epilepsie in der Öffentlichkeit wenig hilfreich.

Wenn es gelingt, die eigene Erkrankung mit all ihren positiven und negativen Seiten anzunehmen und in das eigene Leben zu integrieren, führt dies nicht nur zu mehr Zufriedenheit und Gelassenheit, sondern auch zu mehr Selbstbestimmung und dazu, sich von anderen Menschen mit einer Epilepsie nicht mehr abgrenzen zu müssen. Wie das geht? Dazu finden Sie/findet ihr, liebe Leserinnen und Leser, im vorliegenden Heft hoffentlich einige Denkanstöße.

In diesem Sinne grüßt Euch/Sie herzlich

Euer/Ihr

Norbert van Kampen

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