Liebe Leserinnen und Leser – liebe Freunde und Förderer,
die Erkenntnis, dass Epilepsien erhebliche Auswirkungen auf die soziale und berufliche Situation der daran erkrankten Menschen haben und Epilepsien damit nicht nur eine „medizinische Erkrankung“, sondern eine „soziale Erkrankung“ sind, ist nicht neu – bereits Prof. Dieter Janz, dem die Epileptologie in Deutschland so viel zu verdanken hat, hat 1962 darauf hingewiesen. Wenn dem aber so ist, kann nicht „nur“ Anfallsfreiheit Ziel der Epilepsiebehandlung sein; vielmehr kommt es darüber hinaus darauf an, Menschen mit Epilepsie zu befähigen, mit ihrer Erkrankung zurecht zu kommen, mit ihr „gut leben zu können“. Dabei spielt die psychosoziale Epilepsie-Beratung eine wichtige Rolle.
In vielen Epilepsie-Zentren ist deshalb die psychosoziale Epilepsie-Beratung und die Einbeziehung weiterer nicht-ärztlicher Berufsgruppen (z.B. Psychologie, Ergotherapie) integraler Bestandteil der Behandlung – in der Regel jedoch nur für die Patienten, die sie auch stationär aufgenommen haben. In der ambulanten Epilepsiebehandlung dagegen sieht es eher mau aus … Deshalb fordern wir als Deutsche Epilepsievereinigung seit Jahren ein flächendeckendes Angebot spezialisierter Epilepsie-Beratungsstellen und deren ausreichende Finanzierung durch die Bundesländer. Mit dem Motto Epilepsie – gut beraten? des diesjährigen Tages der Epilepsie wird diese Forderung noch mal auf den Punkt gebracht. Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass die Forderung nach einem in die ambulante Epilepsiebehandlung integriertem qualifizierten psychosozialen Beratungsangebot damit vom Tisch ist – ganz im Gegenteil. Aber ich möchte den Beiträgen im Schwerpunkt dieses Heftes an dieser Stelle nicht vorgreifen …
In diesen Tagen ist viel von Respekt die Rede. Gerade heute habe ich im Tagesspiegel einen Kommentar gelesen, der sich in Bezug auf den CSU-Parteitag damit beschäftigt, was die Opposition in der Regierung ausmachen sollte und was nicht. Aufgabe einer guten Opposition, so die Autorin des Kommentars mit Bezug auf die Herren Merz und Söder, sei es, die Regierung zu kritisieren, Unmut zu kanalisieren und konstruktive Gegenvorschläge zu machen; Aufgabe einer guten Opposition sei es allerdings nicht, den politischen Gegner zu verunglimpfen, ihm generell seine Kompetenzen abzusprechen und ihn zu diffamieren.
Dem ist sicherlich zuzustimmen. Das sollte allerdings nicht nur für „die Politik“ im Großen gelten, sondern auch für den Umgang aller Menschen miteinander – und zwar auch in der Epilepsie-Selbsthilfe. Obwohl sich alle in der Epilepsie-Selbsthilfe Aktiven darin einig sind, dass es letztlich um die Verbesserung der Lebens- und Behandlungssituation von Menschen mit Epilepsie geht und darum, jedweder Diskriminierung eine Absage zu erteilen, gibt es unterschiedliche Meinungen über den richtigen Weg dahin. Das führt manchmal zu Konflikten und Streit, der notwendig und wichtig ist – denn nur, wenn wir uns kritisch miteinander auseinandersetzen, können wir neue Wege entdecken und beschreiten.
Leider aber scheint es so zu sein – und das betrifft nicht nur die Epilepsie-Selbsthilfe – dass wir immer weniger in der Lage sind, uns kritisch/konstruktiv miteinander auseinanderzusetzen. Damit das gelingen kann, sind zwei Dinge unverzichtbar: Der Respekt vor dem anderen Menschen und seiner Meinung und die Fähigkeit, seine eigene Meinung kritisch zu hinterfragen und ggf. zu verändern. Bei vielen Auseinandersetzungen und Streitereien in der Selbsthilfe frage ich mich, worum es eigentlich geht: Geht es noch darum, gemeinsam den richtigen Weg zu finden oder geht es darum, seine eigene Meinung durchzusetzen und sich zu profilieren? Geht es noch um die Sache oder geht es um ganz andere Dinge, über die ich hier nicht spekulieren möchte? Eines sollte uns doch allen klar sein: Wenn wir möchten, dass Menschen ohne Epilepsie respektvoll mit uns umgehen, dann sollten wir das untereinander auch tun – und vor allem sollten wir das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen verlieren. Dazu gehört dann aber auch, die eigene Position kritisch zu hinterfragen, Kritik anzunehmen und auch mal eingestehen zu können, wenn etwas nicht wie geplant funktioniert hat. Wir sind alle nur Menschen und machen Fehler – das gilt für Menschen mit Epilepsie genauso wie für Menschen ohne Epilepsie.
Allerdings sollte die eigene Erkrankung oder die Tatsache, dass die meiste Arbeit in der Epilepsie-Selbsthilfe ehrenamtlich erfolgt, nicht als Entschuldigung dienen, wenn mal was nicht so läuft wie gewünscht – im Gegenteil: Natürlich gibt es krankheitsbedingte Einschränkungen und natürlich sind Menschen mit ihrem ehrenamtlichen Engagement oft überfordert. Aber gerade deshalb sollten wir unsere Kräfte bündeln und unsere Kraft nicht damit verschwenden, uns gegenseitig anzufeinden, voneinander abzugrenzen, aufzuspalten und dabei letztlich unser gemeinsames Ziel aus den Augen zu verlieren.
In diesem Sinne grüßt Euch/Sie herzlich
Euer/Ihr
Norbert van Kampen